Hansruedi Stahel
Meine liebste Kiddy…
Briefe vom Jakobsweg
Hardcover in Fadenheftung
194 Seiten, 71 Farbfotos
ISBN 978 -3-906014-25-8
CHF 34.80
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung
oder beim Verlag: www.cfportmann.ch
Leseproben
Schon die Nacht vor dem Start hatte es in sich. Am frühen Morgen traten meine Mängel als Bahntourist offen zu Tage und zuletzt…
Text aus dem Buch: 1. Kapitel, Seite 11
In Zürich musste ich mich beeilen. 21 Minuten Umsteigezeit. Für einen Pendler eine halbe Ewigkeit. Diese Zeit würde ihm locker für einen Kaffee im Bahnhofsbuffet mit anschließender Shoppingtour reichen. Für ein Zug – Greenhorn bedeutet so wenig Zeit allerdings der nackte Horror. Auf welchem Perron finde ich den TGV nach Paris? Nirgends eine Tafel, nirgends eine Information! Da hörte ich, welch ein Glück, eine Lautsprecherdurchsage: «TGV nach Paris-Est 7:02, Gleis 5!» Leider stand auf Gleis 5 der Zug nach Zug. Unsere Sprache hat es in sich. Da wurde die Lage ernst. Nur noch acht Minuten bis zur Abfahrt meines TGV. Doch da erschien ein Geschenk vom Himmel. Zwei Zugbegleiter. Nachdem sie ihr außerordentlich wichtiges, persönliches Gespräch beendet hatten, wurde mein Problem mit professionell geschulter Miene zur Kenntnis genommen. «Ja», sagte der eine, «das war eine Falschdurchsage. Aber wissen Sie, wo viel gearbeitet wird, passieren auch viele Fehler! Die Situation hat sich bei der Bahn durch die rigorose Personalsparpolitik sehr …» «Es tut mir leid, aber mein Zug fährt in etwa vier Minuten.» Ich sah mich gezwungen, den leidenschaftlich geführten Diskurs des gewerkschaftlich orientierten Bahnbeamten zum Trauerspiel der Personalpolitik der Schweizerischen Bundesbahn abrupt zu unterbrechen. Er schwieg, strafte mich mit einem tadelnden Blick und zeigte mit dem Finger zur Hallendecke. Dort hing, für Eingeweihte gut sichtbar, eine Tafel mit allen Abfahrten. Zürich-Paris- Est Gleis 15 / 7.02.
Mein reservierter Platz war besetzt. Eine junge Familie mit drei Kindern hatte sich für die nächsten fünf Stunden wohnlich eingerichtet. Ich fand im Abteil nebenan genügend Raum für mich, meinen Rucksack und mein leicht irritiertes Selbstbewusstsein.
«Fahren Sie auch nach Paris?», fragte mich freundlich die junge Mutter von meinem reservierten Sitzplatz aus. «Wissen Sie, wir unternehmen mit der ganzen Familie einen Städtetrip.» «Nein, ich fahre weiter nach Bayonne und dann nach St-Jean-Pied-de-Port», erwiderte ich. «St-Jean-Pied-de-Port? Was unternimmt man dort?», hakte sie nach. «Nichts. Dort starte ich meine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. 850 Kilometer zu Fuß.»
Es folgte erschrockenes Schweigen. «850 Kilometer! Alles zu Fuß?» Wie ein Gewitterregen prasselten nun die Fragen auf mich ein. Sofort war ich aufgenommen. Köstlich frische, selbst gemachte Sandwichs wurden mir entgegengestreckt. Wir quatschten, lachten, die Kinder spielten mit Papa um die Wette und die Reise verging im Flug.
Eigentlich hatte ich mir Spanien anders vorgestellt. Warm! Doch schon am zweiten Tag hatte ich Sehnsucht nach langen Unterhosen und meinem Skipulli.
Text aus dem Buch: 1. Kapitel, Seite 19
Noch sechzehn Kilometer bis Roncesvalles. Am Horizont türmten sich dunkle Wolkenberge auf. Der Wind pfiff mir plötzlich kalt um die Ohren.
Ich war allein, der Schnee weich und der Weg mühsam. Langsam wurde es dunkel. An der Quelle Fuente de Roldán (Rolandsbrunnen) überholte ich zwei junge, weibliche Pilger und einen jungen Mann. Die eine Frau saß erschöpft auf einer Steinplatte. Sie konnte nicht mehr weitergehen. Ihre Kollegin machte ein besorgtes Gesicht. Meine letzte Reserve an Schweizer Schokolade fand hier dankbare Abnehmerinnen. Kurz bevor ich in die graue Nebelsuppe eintauchte, schaute ich zurück. Die Schokoladen - Medizin zeigte Wirkung. Beide Frauen kämpften sich den Berg hoch. Ganz alleine war ich nun nicht mehr. Ungefähr hundert Meter hinter den Damen erblickte ich, den mit einem gewaltigen Wanderstab bewaffneten Jüngling. Der Himmel hatte sich inzwischen mit schwarzen Wolken überzogen. Es war kalt und dunkel. Der Weg im Schnee war nun schwer zu finden. Irgendwo sollte die Landesgrenze sein und dort verlief gemäß dem Pilgerführer auch die Hauptwasserscheide der Pyrenäen. Man wechselte vom atlantischen zum mediterranen Einzugsgebiet. Mediterran? Ich hatte das Gefühl, kurz vor dem Nordpol zu stehen!
Irgendwo im Nebel befindet sich hier die Passhöhe vom Cisa-Pass, 1300 Höhenmeter über St. Jean- Pied-de-Port.
Es ist eine besondere Schar von Menschen, welche im April bei Regen und kaltem Wind auf dem Camino unterwegs ist. Immer wieder durfte ich Kiddy von aussergewöhnlichen Begegnungen und einzigartigen zwischenmenschlichen Erfahrungen berichten.
Text aus dem Buch. Kapitel 16, Seite 108
Ganz vertieft in die fototechnische Herausforderung, wurde ich plötzlich von der Seite angesprochen. Erschrocken fuhr ich zusammen und bemerkte eine junge Frau neben mir, die aus dem Nichts
aufgetaucht war. Sie meinte, sie habe am vergangenen Abend in der Pilgerherberge gesehen, wie ich in der Ecke einen Brief schrieb und sich vorgenommen, mich heute anzusprechen. Seit langer Zeit
trage sie ein Problem mit sich herum. Eine innere Stimme gebe ihr das Gefühl, dass sie mit mir darüber sprechen könne. Beim Wandern kann man besser sprechen als beim Sitzen. Also nahmen wir
den Weg unter die Füße, und sie begann zu erzählen.
Sie stand kurz vor dem dreißigsten Lebensjahr. Ein abgeschlossenes Studium lag hinter ihr. Um ihren Job würden sie viele Frauen in ihrem Alter beneiden. Sie wohnte mit ihrem Freund zusammen in
einer Luxuswohnung, im besten Quartier der Stadt. Auch er konnte auf ein erfolgreiches Studium zurückblicken und sein Job versprach eine glänzende Karriere. Beide verdienten gewaltige Summen und
gaben diese auch aus. Nun war die junge Frau auf dem Camino. Allein! Warum? Sie hielt dieses Leben nicht mehr aus. Es erschien ihr leer, hohl und oberflächlich. Sie blieb stehen. „Was soll ich
machen? Ich habe Angst!“, flüsterte sie. Sie zitterte. „Gibt es einen Weg zurück?“, fragte sie. Eine längere Zeit marschierten wir schweigend nebeneinander her.